Ein Gedicht und eine Vision: Die Geschichte des Hirschen in Oberstammheim ist mehr als nur ein Kapitel regionaler Baugeschichte – sie ist ein Zeugnis von familiärer Verbundenheit, kulturellem Erbe und dem Mut, historische Werte in die Zukunft zu tragen.
Eine sonderbare Eingebung
"Auf, Wehrli, auf, führ den Hirsch zurück zu seiner Quelle."
So endet das Gedicht eines 13-jährigen Jungen namens Ruedi Wehrli, geschrieben um das Jahr 1915. Im Gedicht war nicht die Rede vom Tier. Es war ein Ruf nach Rückkehr. Die Rückkehr eines Gasthofs, den seine Familie einst erbaut hatte, den Hirschen. Was Ruedi zu diesem Gedicht bewegte, bleibt ein Rätsel. Der Hirschen war zu diesem Zeitpunkt bereits 129 Jahre nicht mehr in Familienbesitz. Und doch hallten seine Worte über Generationen hinweg nach.
Zwei Jahre später verunglückte Ruedi tödlich. Doch sein Gedicht überdauerte.
Ein Haus kehrt zurück
Erst 1943 – fast drei Jahrzehnte später – nahm der Vater von Ruedi, Heinrich Wehrli, die Spur auf. In Erinnerung an seinen verlorenen Sohn und inspiriert von dessen Worten kaufte er den Hirschen zurück. Damit begann ein neues Kapitel für das historische Gebäude, das 1684 als herrschaftlicher Landsitz für den St. Galler Klostermann Johannes Wehrli errichtet worden war.
Sein Enkel, Fritz Wehrli, übernahm 1996 die Verantwortung für das gesamte Ensemble, sechs Gebäude, allesamt denkmalgeschützt. Während sich niemand sonst aus der Familie dafür interessierte, verspürte er eine tiefe Verbundenheit mit dem Ort seiner Vorfahren und machte ihn zu seiner Lebensaufgabe.
Der Hirschen heute
Heute ist der Hirschen mehr als nur ein Restaurant mit Hotelbetrieb. Es ist ein kulturelles Zentrum im Zürcher Weinland, ein lebendiges Denkmal mit Theaterbühne, Garten, Stall und Scheune. Die sogenannte Hirschenbühne bietet Platz für bis zu 60 Personen und beherbergt regelmässig Theater, Kabarett und Lesungen.
Doch all das war nur möglich durch jahrelange Restaurierungsarbeiten – mit einem Aufwand von rund sechs Millionen Franken. Rund ein Drittel davon wurde durch Denkmalpflege, Stiftungen und private Gönner getragen. Der Rest, ein finanzielles Wagnis, blieb an Fritz Wehrli hängen. Ein Public-Private-Partnership im besten Sinne.
Warum macht man sowas?
Warum investierte der Alleinbesitzer Jahrzehnte in ein Ensemble, das mehr kostet als es abwirft? Fritz Wehrlis Antwort ist schlicht: "Im Hirschen ist die Geschichte meiner Familie gespeichert." Der Hirschen ist kein Renditeobjekt. Er ist Familie und ein Geschenk an die nächste Generation.
"Mein Vorfahre Ruedi Wehrli wäre stolz, wenn er wüsste, dass sein Aufruf erhört wurde", meinte Fritz Wehrli.
Was bleibt?
Der Hirschen in Oberstammheim zeigt, dass Denkmalpflege mehr sein kann als der Erhalt von altem Gemäuer. Sie kann Identität stiften, regionale Kultur stärken und sogar touristische Impulse setzen – wenn sie mit Hingabe, Verstand und Kreativität betrieben wird.
Dieser Blogbeitrag ist aus einem persönlichen Besuch im Hirschen entstanden. Fritz Wehrli hat sich an einem Frühlingstag Zeit genommen, mich durch das Ensemble zu führen – mit spürbarer Leidenschaft für das, was ihm am Herzen liegt.
Als Verein, der sich im Zürcher Weinland für Freizeit & Tourismus und Kultur engagiert, ist es uns ein Anliegen, Menschen wie Fritz Wehrli eine Plattform zu bieten. Sein Engagement für den Erhalt und die Belebung dieses einzigartigen Kulturguts ist beispielhaft.